„Noch sind wir nicht gar aus“, „Noch hat Gottes Barmherzigkeit kein Ende“. Für mich haben diese Aussagen lange Zeit einen bedrohlichen Klang gehabt: Noch nicht ..., aber wer weiß, wie lange noch? Darum sieh bloß zu, dass du die Kurve kriegst! Nimm dich in Acht, denn bald reißt der Geduldsfaden! Wessen Geduldsfaden? Natürlich der von Gott! Denn wenn man dessen Geduld zu lange strapaziert, dann hat die Barmherzigkeit eben doch ein Ende!
„Noch ist Gnadenzeit!“ so habe ich es in meiner Jugend oft gehört. Aber dieser Satz enthielt keinerlei Erleichterung, er war als Drohung zu verstehen: Wer sich jetzt nicht bekehrt, für den ist bald die Tür zu!
Und so habe ich in meiner Kindheit und frühen Jugend einen starken Druck empfunden, mich zu bekehren. Die Frage war nur: Von was?! Denn im christlichen Glauben war ich längst beheimatet. Das galt aber nichts, ohne Bekehrung. „Erst die macht dich frei von allem Druck“ hieß es. Der einzige Druck aber, den ich hatte, war der, dass ich mich bekehren sollte. Ein ziemliches Dilemma für eine junge Seele! Wie schade, dass ausgerechnet die Kirche, der doch das Evangelium, die frohe Botschaft anvertraut ist, so oft mit Druck und Angst gearbeitet hat! Ob sie wohl selbst unter Druck standen, die Altvorderen mit ihren Forderungen? Und was war das für ein Druck? Erfolgsdruck? Rechtfertigungsdruck? Versagensangst? Angst um mich?...
Ganz anders die Situation im Buch der Klagelieder Jeremias. Da heben die Menschen nach einer schlimmen Krise zum ersten Mal wieder den Kopf. Noch mit Tränen in den Augen schauen sie auf das, was passiert ist: Die Katastrophe von Krieg und babylonischer Gefangenschaft war hausgemacht, eine Folge mangelnden Gottvertrauens und politischer Fehlentscheidungen. Der Gedanke lag sehr nahe: Gott hat jetzt ein für alle Mal die Geduld mit uns verloren. Stattdessen entdecken sie: Immer noch ist es mit uns nicht aus und immer noch hat Gottes Barmherzigkeit kein Ende! Wir haben schwer gelitten unter den Konsequenzen unseres eigenen Handelns. Aber so, wie die Sonne jeden Morgen neu aufgeht, so strahlt auch Gottes Güte über uns – immer noch! Gott hat uns nicht aufgegeben, denn „nicht von Herzen plagt und betrübt er die Menschen!“ Es entspricht nicht dem Herzen Gottes, Druck zu machen. Er will davon befreien!
Auch die Menschen, die der 2. Petrusbrief anspricht, befinden sich in einer beklommenen Lage. Sie erwarten nichts Gutes für die Welt, in der sie leben. Sie befürchten einen krachenden Untergang in großer Hitze! Und auch der wäre durchaus die Folge des eigenen Tuns und der eigenen Versäumnisse.
Und trotzdem haben sie das Vertrauen, dass Gottes Barmherzigkeit dabei nicht untergeht. „Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.“ So heißt es im Monatsspruch für November im 2. Petrusbrief 3,13. Bekehrung ist kein Besänftigungsmittel für Gottes angespannte Geduld. Sie bedeutet eine Hinwendung zum Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit, die einfach nicht klein- zukriegen ist. Sie ist der feste Glaube, dass Gott mir nicht die Tür vor der Nase zuschlägt, und dass darum ein Neuanfang immer möglich ist.
Euer Pastor Rainer Mittwollen